Die Nachricht vom Disziplinarverfahren gegen Pfarrer Martin Michaelis beschäftigt viele der Leser unserer Homepage. Martin Michaelis ist einer unserer Mitinitiatoren von „ChristenStehenAuf“. Der Richter Matthias Guericke kommentiert die auch für uns unverständliche Entscheidung seiner Kirchenleitung.

Ausgrenzung ist Nächstenliebe. Die Evangelische Kirche und die AfD

Matthias Guericke

 Am 13. März 2024 hat der Kreiskirchenrat des Kirchenkreises Egeln (Evangelische Kirche in Mitteldeutschland) beschlossen, die Beauftragung von Pfarrer Martin Michaelis, Quedlinburg, mit Diensten im Pfarrbereich Gatersleben zu beenden. Grund dafür ist seine Kandidatur als Parteiloser auf der Liste der AfD für den Stadtrat Quedlinburg bei den Kommunalwahlen im Juni. Inzwischen wurde von der Kirchenleitung ein Disziplinarverfahren gegen Martin Michaelis eingeleitet. Dieser Vorgang, über den bundesweit medial berichtet wurde, hat die Frage des Verhältnisses der Kirchen zur AfD im Wahljahr 2024 verstärkt ins öffentliche Interesse gerückt.

Schon im November letzten Jahres hatte die EKD-Synode in Ulm eine Art Unvereinbarkeitsbeschluss verabschiedet. Ende Februar folgte sodann die Katholische Deutsche Bischofskonferenz mit einer Pressemitteilung, in der sie die AfD für Christen für nicht wählbar erklärte. Dem wollten auch evangelische Bischöfe nicht nachstehen und so veröffentlichte am 19. März die Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) zum Abschluss ihrer Klausurtagung in Dresden eine Presseerklärung, in der es heißt:

„Wer die AfD wählt, unterstützt eine Partei, die das christliche Menschenbild mit Füßen tritt, programmatisch mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gegen das Gebot der Nächstenliebe verstößt und mit ihren Hetzparolen den Geist der Gemeinschaft vergiftet. Diese Partei will uns die Mitmenschlichkeit, unseren Nächsten die Menschenwürde und Gott die Ehre entreißen.“

Der Ton, der hier angeschlagen wurde, war kaum noch zu steigern. Es hätte nur noch gefehlt, dass die Bischöfe die AfD zum Antichrist und den „Kampf gegen rechts“ zur Pflicht eines jeden Christenmenschen erklärten.

Was die Bischöfe in ihrem Furor allerdings versäumten, war eine Begründung ihres Bannfluchs. Der Autor dieses Textes hat deshalb bei dem in der genannten Pressemitteilung als Ansprechpartner angegebenen Oberkirchenrat Dr. Dr. Hofmann nach einer solchen gefragt. Die lapidare Antwort lautete: „Mit der Stellungnahme zur AfD folgen die lutherischen Bischöfinnen und Bischöfe dem Beispiel ihrer katholischen und der EKD-Kolleg*innen, die solche Erklärungen bereits früher abgegeben hatten. Auf den Websites Die Kirche und die AfD – katholisch.de und Kirche gegen Rechtsextremismus – EKD finden Sie detailliertere Ausführungen zu Gründen und Belegen.“

Das war natürlich keine Antwort auf die Frage nach einer Begründung, zumal auf den angegebenen Websites ebenfalls keine zu finden ist. Auch sonst sucht man dergleichen vergeblich. Zwar gibt es kirchliche Texte zu Rechtspopulismus und Rechtsextremismus (z. B. hier), aber es gibt kein einziges Papier, in dem eine dezidierte und substantielle Auseinandersetzung mit dem Grundsatzprogramm der AfD und ihrer Politik stattfindet.

Dass die AfD christliche Grundwerte verachtet, die Menschenwürde nicht anerkennt, Minderheiten diskriminiert und eine menschenverachtende Politik vertritt, ist bei der Evangelischen Kirche (und nicht minder bei der Katholischen) schlicht gesetzt: Rechtspopulismus und Rechtsextremismus sind zu verurteilen, die AfD ist rechtspopulistisch und rechtsextremistisch (auch das muss nicht weiter begründet werden) und deshalb ist auch die AfD zu verurteilen. Das muss als Begründung genügen. Auf den Gedanken, dass man der AfD selbst eine nachprüfbare Begründung schulden könnte, ist offenbar noch niemand gekommen. Mit der AfD redet man ohnehin nicht und deshalb hat sie offenbar auch keine Begründung für ihre kirchliche Verurteilung verdient.

Es ist nicht anders als in der Corona-Krise. Auch da hatte die Kirche sich nicht um eine selbstverantwortete begründete Position bemüht, denn es war von Anfang an klar: Die Regierung hat Recht, die Corona-Kritiker haben Unrecht und deshalb stellt sich die Kirche – wie so oft in der Geschichte – loyal auf die Seite des Staates. Keine tiefergehenden Fragen stellen („Wir sind ja keine Virologen!“) und alles mitmachen – das war die Position der Kirche und so kam es dann auch dazu, dass die EKD-Ratspräsidenten Annette Kurschus sich für die Impfpflicht aussprach und die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland mit dem Slogan „Impfen ist Nächstenliebe“ impfskeptische Christen unter moralischen Druck setzen wollte. Mit der Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben und der öffentlichen Hetze gegen Ungeimpfte hatte die Evangelische Kirche kein Problem. Die mutmaßliche Erklärung dafür ist so schlicht wie frappierend: In dem Bild, das die Kirchenleitungen von der Gesellschaft haben, gibt es Ausgrenzung und Hass und Hetze per definitionem nur von rechts. 2G und die Impfpflichtkampagne mussten daher etwas Anderes sein: Nächstenliebe.

Wenn die Evangelische Kirche es im Umgang mit der AfD besser machen wollte als bei Corona, müsste sie zunächst erst einmal die von ihr hochgehaltenen christlichen Prinzipien auch gegenüber der AfD anwenden. Das hieße: Auch die Mitglieder und Wähler der AfD sind als Menschen mit eigener Würde zu achten und daraus folgt, dass die Kirche, bevor sie die AfD verurteilt, sich eine konkrete, nachprüfbare Begründung dafür erarbeiten müsste, die sie dann auch zur Diskussion stellt. Schlagworte, bloße Behauptungen und die Berufung auf einen mutmaßlichen Konsens der Mehrheit sind dafür völlig unzureichend.

Wo müsste die Kirche dabei anfangen? Naheliegend wäre mit dem Grundsatzprogramm der AfD. Und – Überraschung oder nicht – sie würde feststellen, dass das Grundsatzprogramm auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht und sich in ihm auch keine Angriffe gegen das Christentum finden. Etwas anderes hat selbst der Verfassungsschutz bisher nicht behauptet. Sie würde keinen Beleg dafür finden, dass die AfD nicht von der gleichen Würde aller Menschen ausgeht und auch keinen Beleg für die Behauptung einer „programmatischen gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (siehe oben!). Islamkritik ist dafür übrigens kein Beleg, denn sie ist vom Grundgesetz genauso gedeckt wie Kritik am Christentum und jegliche Religionskritik.

Nach der Feststellung, dass das AfD-Grundsatzprogramm weder verfassungsfeindlich noch mit dem christlichen Glauben unvereinbar ist, blieben dann grundsätzlich zwei Möglichkeiten:

Zum einen könnte die – im klassischen Sinne verschwörungstheoretische – Hypothese verfolgt werden, dass die AfD gar nicht das will, was in ihrem Grundsatzprogramm steht, jedenfalls nicht nur das, sondern in Wahrheit etwas anderes, Verfassungsfeindliches, mit dem christlichen Glauben Unvereinbares. Es müsste dann versucht werden, diese Hypothese anhand von Äußerungen einzelner AfD-Politiker zu begründen. Dabei müsste aber auch begründet werden, warum aus Einzeläußerungen ein  Rückschluss auf die Partei als Ganzes gerechtfertigt sein soll, weil nur dann zu Recht die gesamte Partei verurteilt werden könnte. Das ist das Vorgehen des Verfassungsschutzes, wenn er prüft, ob die AfD bzw. einzelne ihrer Landesverbände – ungeachtet des verfassungskonformen Parteiprogramms – als rechtsextrem einzustufen ist.

Die Kirche könnte zum anderen aber auch zu der Auffassung kommen, dass die Aufgabe des Verfassungsschutzes nicht die ihre sei und erklären, dass sie die AfD bei ihrem Wort nehmen wolle und das Wort einer Partei, die bisher nicht Regierungsverantwortung war, sei nun einmal ihr Programm. Darauf wolle sie die AfD behaften und auf dieser Basis könnte sie sich auch zu einem Dialog bereit erklären.

Wäre das eine Offenheit und Menschenfreundlichkeit im Umgang mit dieser Partei, die sich die Kirche nicht leisten kann? Ist eine Strategie der konsequenten Ausgrenzung der größten Oppositionspartei auf der Grundlage einer Hermeneutik des Verdachts tatsächlich das christliche Gebot der Stunde? Oder geht es bei der Ausgrenzung der AfD für die Kirche sogar um Identitätsgewinn angesichts des eigenen gesellschaftlichen Bedeutungsverlustes?

Jesus hat Sünder und Zöllner an seinen Tisch geladen, ohne zuvor zu prüfen, ob sie die „richtigen“ religiösen oder politischen Ansichten vertreten. Ob daraus irgendetwas für den Umgang mit der AfD folgen könnte, hat sich die im Kampf gegen rechts jetzt an vorderster Front mitkämpfende Kirche offenbar noch nicht ernsthaft gefragt. Bleibt zu hoffen, dass zumindest die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland in dem Disziplinarverfahren gegen Pfarrer Martin Michaelis noch zu dem notwendigen theologischen und politischen Nachdenken gezwungen wird.